Reihe: Positionswechsel – Interview mit ehemaliger Produktmanagerin

Wir treffen uns im Grünen. Sie möchte anonym bleiben, um ihrem ehemaligen, renommierten Arbeitgeber nicht zu schaden. Sie ist Anfang 30 und hatte ihren Traumberuf erreicht. Die Erfahrungen an diesem Platz und den Wechsel ihres Berufsweges schildert sie hier:

 

Welche Ausbildung hast Du gemacht und was daran hat Dich gereizt?

Ich bin ein visueller Mensch, liebe das Kreative und das Praktische. Zuerst habe ich die Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert und dann die Kunst mit dem Wirtschaftlichen verbunden, indem ich Designmanagement studiert habe. Mir war sofort klar, dass mich Marketing am meisten anspricht. Der Studiengang hat mich überglücklich gemacht, ich hatte das Gefühl, ich kann mich hier voll einbringen, ich kann das tun, was ich gerne mache, also Organisation, Design, Konzeption.

Nach dem Studium bin ich umgezogen in eine größere Stadt, habe dort bei einem großen Mediensender meine Bachelorarbeit im Bereich Marketing Corporate Design geschrieben, was mir auch totale Freude bereitet hat. Ziemlich schnell wurde mir dann die Stelle bei einem Konzern einer großen Nahrungsmittelkette als Produktmanagerin für Verpackungsdesign im Biobereich angeboten. Ich habe voller Euphorie und Engagement diese Arbeit angetreten, weil die Stelle absolut meine Werte und Neigungen verkörperte wie: das Gestalterische, das Visuelle, das Nachhaltige, die Gesundheit. Es war das absolute Highlight für mich, diesen Job bekommen zu haben. Ich war total begeistert und auch stolz auf mich. Hier verbrachte ich dann 2 Jahre.

 

Was geschah an dem angestrebten, nun erreichten Arbeitsplatz?

Ich hatte kein konkretes Idealbild davon, wie sich die Arbeit gestalten würde. Zum ersten Mal hatte ich eine große Verantwortung zu tragen, eine richtig große Verantwortung und es gab mir das Gefühl, wertgeschätzt und wichtig für das Unternehmen zu sein. Ich war diejenige Person, die die Druckfreigabe erteilt hat und damit die Verantwortung für die Einteilung eines Millionenbudgets inne hatte. Ich habe mich in diese Aufgabe immer weiter eingearbeitet, besonders in die strategische Positionierung der unterschiedlichen Eigenmarken des Konzerns, im Übrigen alles Produkte, die ich phantastisch finde und auch selber immer noch gerne kaufe. Ich stand voll hinter dem, was ich da vertreten habe.

Doch innerhalb kurzer Zeit wurde meine Position von Tag zu Tag mit immer mehr Aufgaben erweitert. Ich bekam immer mehr übertragen. Und damit wurde es dann zu einer stetig wachsenden Herausforderung. Ich habe gemerkt, ich kann den Anforderungen in der vorgesehenen regulären Arbeitszeit nicht mehr gerecht werden. Mein Vertrag sah eine 38,5 Stundenwoche vor. Ich hatte in kurzer Zeit ca. 60 Überstunden und das Arbeitspensum dennoch immer noch nicht geschafft, so dass ich dann immer noch mehr gearbeitet habe, um dem Arbeitsumfang irgendwie gerecht werden zu können.

Die Rahmenbedingungen verursachten eine ständige Überforderung:
Betreuung von bis zu 150 Produkten im Hochpreissegment gleichzeitig. Hinzu kamen mehrere -zig Emails pro Tag, 20-30 Anrufe nur auf meiner Leitung von Lieferanten, Einkäufern, Qualitätssicherung, Marketingchef, etc. Dann noch eine mir zugewiesene Praktikantin zur Einarbeitung, einströmende Fragen von Kollegen, Meetings usw. Das bedeutete eine ständige Überforderung und auch Überreizung an jedem einzelnen Tag. So habe ich dann noch mehr Stunden an den Abenden dran gehängt, weil ich in der Reizüberflutung tagsüber gar nicht mehr effizient arbeiten konnte. Ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten ist.

Zudem wurde ich dafür verantwortlich gemacht, wenn Fristen nicht eingehalten wurden oder wenn Fehler auf der Verpackung waren. Dabei waren für so manche Beanstandungen die Qualitätssicherung oder jemand anders zuständig.

 

War eine Verbesserung oder Veränderung im Arbeitsablauf oder Umfeld möglich?

Es gab Kollegen, die schon viele Jahre dort tätig waren und inzwischen schon mehr Erfahrung hatten. Sie hatten ein noch größeres Pensum als ich zu bewältigen und ca. 300 Produkte zu betreuen. Sprich, mir wurde klar, dass ich als Anfängerin sozusagen noch geschont wurde, aber dass es mit der Zeit ebenso auf mich zukommen würde.

Ich bin jemand, die einen hohen Design-Anspruch an die eigene Arbeit stellt, an die Art, wie „mein Produkt“ am Ende verpackt im Regal steht in ganz Deutschland. Das macht die Freude meiner Arbeit aus. Das ist mir wichtig. Ich sah, wie andere, alteingesessene Kollegen ihre Produkte aus dem Niedrigpreissegment meist nur noch eilig durchgehackt haben. Diese meine eigene Zwickmühle, dem Anspruch der Geschäftsleitung als Neuling gerecht werden zu wollen und gleichzeitig meinen ästhetischen Anspruch runter zu schrauben, um den Arbeitsumfang zu stemmen, schien mir immer mehr unlösbar. Es gab in meinem engeren Bereich weitere 20 Kolleginnen und Kollegen, denen erging es in dieser Abteilung ähnlich wie mir.

Ich hätte einfach mehr Ruhe gebraucht, mehr Fokussierung, weniger zerstreute Arbeitsbereiche, mehr große Themenbereiche, statt so vieler Kleiner, eine reizärmere Umgebung, indem  z. B. nicht ich die Hauptansprechpartnerin am Telefon gewesen wäre, sondern jemand Anderes, solche Dinge eben.

Ich wusste, was mich mehr in meine volle Kraft gebracht hätte und habe alle Möglichkeiten dazu ausgeschöpft: Gespräche mit der Teamleitung geführt, mir erkämpft, dass ich alle 2 Wochen erleichternderweise 1 Tag Homeoffice machen konnte, auch wenn das nicht gern gesehen war. Ich habe mich für einen Höhen verstellbaren Schreibtisch eingesetzt, weil ich inzwischen chronische Rückenschmerzen bekam, bin regelmäßig zum Einrenken gegangen, um körperlich arbeitsfähig zu bleiben, habe Ohrstöpsel gegen die akustische Geräuschkulisse genutzt.

Ich habe alles, wirklich alles getan, bis ich eines Tages gemerkt habe, es geht nicht. Meine Kräfte wurden immer weniger, ich war immer weniger aufnahmefähig, weniger konzentriert, auch privat konnte ich gar nicht mehr richtig zuhören, bekam immer mehr Schlafstörungen, bis hin, dass mich während der Arbeit immer wieder Blackouts überkamen. Die habe ich anfangs noch versucht aufzulösen, indem ich für einen Moment kurz spazieren ging.

Es gab da eine Freundin, die seit 1 Jahr den Konzern verlassen hatte, von der ich wusste, dass sie auch in einen Burnout geraten war und der ich alles anvertrauen konnte. Das tat gut und gleichzeitig suchte ich mir Hilfe durch psychologische Behandlung, um mit mir wieder klarzukommen.

Und dann gab es diesen einen Schlüsselmoment:
ich saß am PC und plötzlich ging gar nichts mehr. Ich konnte nicht sprechen, keine Anweisungen geben, das Telefon nicht annehmen und es liefen spontan, ohne dagegen angehen zu können, die Tränen. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Nichts. In dem Moment rief ich meinen Psychologen an und mein innigster Wunsch war es, sofort mit allem aufzuhören und endlich zu flüchten. Er schrieb mich eine Woche krank. Zusammen mit ein paar Krankheitstagen habe ich in den Jahren also insgesamt 10 Tage gefehlt.

Und nach dieser 1 Woche Pause habe ich irgendwie versucht trotzdem weiter zu machen, denn ich wusste ja, dass mein Postfach immer voller wird. Ich wusste, wenn ich nach 1 Woche zurückgehe, dann habe ich 500 Emails und wenn ich 2 Wochen fehle, dass es 1000 sein würden. Eigentlich eine absolute Katastrophe, auf diese Art eben workoholic zu sein. Sprich: mein Körper hat geschrien und das Postfach hat geschrien. Und meine Absicht war es eben beiden gerecht zu werden.

So habe ich privat alles eingeschränkt, um halbwegs in der Kraft zu bleiben, habe mehr Yoga und Meditation gemacht, was aber, weil ich bereits so erschöpft war, einfach nur noch zusätzliche Stresstermine für mich waren, statt Erholung. Ich konnte immer noch nicht gut schlafen und so habe ich aufeinmal angefangen nachts wie verrückt und spontan zu malen, um einfach komplett abzuschalten, wie eine Art action painting. Das war meine ureigene Rettung sozusagen.

 

Was hast Du mit diesen Erfahrungen gemacht?

Nun, letztlich hat sich das Schlimmste in das Allerbeste für mich verwandelt, denn dadurch bin ich auf einen neuen Weg für mich gekommen. Diese Überlastung, diese Überreizung hat mich dazu geführt, dass ich anders, sinnvoller, ruhiger arbeiten will. Mir wurde klar, dass ich Kunsttherapie machen will. Da habe ich dann die Reißleine gezogen.

Ich habe ganz aktiv an den Wochenenden nach anderen Jobs gesucht, die mich weniger überfordern, mir mehr gerecht werden und es mir erlauben, mich nebenbei weiterzubilden. Inzwischen habe ich eine 2 jährige Ausbildung zur Kunsttherapeutin begonnen und sogar eine neue, tolle Stelle mit viel kreativem Potential bei einem StartUp-Unternehmen mit einem echt super Arbeitgeber gefunden. Ich habe hier so viel Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiraum mit open space-Konzept gewonnen, kann sagen, wieviel Stunden ich hingehen möchte, an welchem Ort im Haus ich arbeiten will, ob Dachterrasse oder Sitzecke mit bereits vorhandenem Höhen verstellbaren Tisch oder Ruheraum oder einfach Homeoffice machen. Es ist so großartig flexibel. Das ist das komplette Kontrastprogramm zu den vormals starren, eingeschränkten Strukturen.

Sicher, auch hier predigt uns unser Vorgesetzter etwas, nur klingt das so: „Es ist wichtig, dass wir Umsatz generieren bzw. voran treiben und es ist mir wichtig, dass ihr 20% eurer Arbeitszeit nehmt, um Ideen zu generieren und Prozesse zu optimieren und eigene Ideen einzubringen.“ Das ist ein absolutes Geschenk! Sprich ich arbeite derzeit 80% nach Vorgaben und 20% on top ganz aus mir heraus, wohingegen ich im Konzern gefühlt 150% fremdgesteuert gearbeitet habe.

Fast jedes große Unternehmen hat inzwischen das Zertifikat „Bester Arbeitgeber“, wie auch mein vormaliger Arbeitgeber und doch kann man von außen überhaupt nicht bewerten, inwieweit das tatsächlich zutrifft oder in welchen Bereichen überhaupt zutrifft. Das Etikett sagt nichts über den Arbeitsalltag aus. Genauso wenig wusste ich, wie sich das Startup-Unternehmen ohne ein solch lobendes Etikett darstellen würde und bin so positiv überrascht über das, was ich hier vorfinde.

Man wird also schon von den Zertifikaten gelockt, aber auch getäuscht. Was wirklich dahinter steht, muss man erst selbst erfahren. Praktika helfen da immens, um einen Eindruck zu gewinnen oder wenn man Leute kennt, die dort bereits arbeiten. Meistens erfährt man dann rechtzeitig, dass der Großteil der Leute, wie auch bei uns damals, frustriert, gestresst oder abgestumpft ist.

 

Was ist Dein Fazit?

Es ist interessant: man hat in diesem Land Kapital, Potential, Kompetenz, verschiedenste Bedarfe, unfassbar tolle Möglichkeiten diese zu bedienen, Menschen, die sich dabei begeistert einbringen könnten und doch fühlen sich die meisten von ihnen stark überfordert und unter massivem Zeitdruck. Immer wieder gibt es Fristen und Deadlines, Hetze, Stress, Druck trotz spannender und toller Projekte.

Meiner Meinung nach, liegt das an dem System selbst, an dieser Gesellschaft und dem stark ausgeprägten Wettbewerbsdruck gegenüber den Konkurrenten. Der Druck der Geschäftsleitung resultiert eben daraus und setzt sich über alle Ebenen weiter nach unten fort. Relaunches, Trends, Innovationen, Produkterweiterungen müssen schneller und besser vorangebracht werden, als es die Konkurrenten tun. Es ist ein totaler Kampf. Als könnten nur ein paar Wenige daran satt verdienen und eben nicht Mehrere daran ausreichend verdienen. Mein Geschäftsleiter sagte mir damals: „Wir fischen alle in einem Teich und alle wollen so viele Fische wie möglich daraus angeln. Wer den besten und schönsten Köder hat, der zieht halt die meisten Fische raus.“

Aber es ist ja nun mal so: Menschen sind keine Maschinen und die Natur kann man nicht endlos ausbeuten. Es kostet immense Kraft jeden Tag gegen seine eigenen Werte und Kraft handeln zu sollen. Ich sehe, wie immer mehr Menschen keine Lust mehr haben, sich kaputt zu machen und das System in der Form nicht mehr unterstützen wollen, weil sie sich ihr Leben so nicht vorgestellt haben. Ich sehe hier echt die Möglichkeit, dass immer mehr Menschen aus diesem System ausbrechen und sich denen anschließen, die sich neben dem konkurrenzorientierten Markt als kleine nachhaltig geführte Unternehmen etablieren. Jedenfalls macht mir die neue Arbeit auf diese Art extrem viel Freude und ich fühle mich wieder gut dabei!